HAT JEMAND ZUFÄLLIG MEINEN BESEN GESEHEN?


Leseprobe

(Achtung: unkorrigierte Leseprobe)

 


Prolog


Ein Jahr zuvor

»Wir reiten nicht auf einem Besen, Liebling.«

 

»Wieso nicht, Grandma?«

 

»Weil ein Auto heutzutage viel schneller ist.«

 

»Ein Besen wäre aber cooler.«

 

»Cooler. Hast du das gehört, Mary? Wo hat unsere süße Mia nur immer diese neumodischen Ausdrücke her?«

 

»Von ihrem Daddy, woher sonst?«

 

»Das ist eine Unterstellung, mein Schatz.«

 

»Sagt der, der ihr welches Wort beigebracht hat?«

 

»Pscht, du weißt doch, wir sprechen es nicht mehr aus. Sonst gibt es nur wieder einen tadelnden Brief aus dem Kindergarten, weil unser kleiner Liebling zu einem anderen Kind scheiße gesagt hat … Ups.«

 

»Thomas!«

 

***


Ich musste bei der Erinnerung an dieses im Grunde alberne Gespräch unwillkürlich grinsen, obwohl es schon so viele Jahre her war und ich meine Eltern heute leider nur noch auf Bildern und in meiner Erinnerung sehen und erleben konnte, denn sie waren lange fort und selbst Hexen waren sterblich und konnten den Tod nicht so einfach überlisten, wie ich das gerne hätte.

Zumindest im Fall meiner Eltern, denn sie waren gegangen, um in einem Krieg zu helfen, der nicht ihrer war, und sie waren dort gestorben.

Sie hatten mich, ein damals kleines Mädchen, das lange Zeit nicht verstanden hatte, warum ihre Eltern nie wiederkommen würden, bei meiner Großmutter zurückgelassen, die selbst den Verlust ihrer Tochter und ihres Schwiegersohns betrauerte, und die trotzdem alles getan hatte, um mir ein gutes, sicheres Leben zu ermöglichen.

Es war Grandma gut gelungen, aber trotzdem vermisste ich meine Eltern jeden einzelnen Tag, die bis zu ihrem grausamen Tod auf dem Schlachtfeld, in einem Land, in dem noch immer um Macht und Vorherrschaft gekämpft wurde, unerschütterlich an die Menschen und einen anhaltenden Frieden auf der Welt geglaubt hatten.

Meine Eltern hatten nie die Hoffnung aufgegeben, dass wir uns den Menschen eines Tages zu erkennen geben konnten, um die Erde gemeinsam zu einem besseren Ort zu machen.

Sie wären unglaublich enttäuscht und unglücklich, müssten sie miterleben, was aus ihrer geliebten Welt geworden war.

»Woran denkst du, mein Liebling?«

Grandmas Frage riss mich aus meinen Grübeleien und ich reichte ihr das Mehl, als sie darum bat, ehe ich antwortete. »An Mom und Dad. An die Diskussion um das ach so böse Wort mit sch und um tadelnde Briefe aus dem Kindergarten.«

Grandma lachte und maß Mehl ab. »Oh ja, ich erinnere mich noch ziemlich gut an diesen Tag und viele weitere seither. Dein Wortschatz war und ist äußerst umfangreich, findest du nicht?« Sie zwinkerte mir liebevoll zu. »Ganz besonders dann, wenn es um einen gewissen Gentleman geht, der seit Neujahr ein Haus weiter wohnt und immer so betont höflich zu dir ist.«

Ich knurrte erbost. »Hör mir auf mit dem. Back lieber Kekse. Immerhin hast du den Kindern zu Ostern mindestens tausend Stück versprochen. Oder war es eine Million?«

Sie machte sich feixend ans Werk und weil ich sie über alles liebte und Grandma seit dem Tod meiner Eltern alles war, was ich noch hatte, half ich ihr natürlich dabei, denn sie wollte für den Kindergarten ein paar Straßen weiter wahre Berge von unterschiedlichen Keksen backen. Und danach, wenn die Kekse fertig waren, würden wir uns daran machen, Eier zu färben, die schon zu Hunderten in unserer Kammer bereit standen, denn das Osterfest im Viertel stand an und ich konnte mich an kein Jahr erinnern, an dem wir nicht dabei geholfen hatten, seit wir in diese Stadt gezogen waren.

Wir mochten Hexen und dank unserer unterschiedlichsten Fähigkeiten den Menschen weit überlegen sein, aber wir lebten dennoch mit und unter ihnen, denn, wie gesagt, wir hatten bloß diese eine Welt. Auch wenn ich mir schon oft gewünscht hatte, es wäre nicht so und wir müssten uns nicht an die Gesetze der Zauberer und Hexen halten, um den Menschen zu zeigen, wer die wahren Herrscher dieser Welt waren und wer bereits seit so vielen Jahrhunderten alles zusammenhielt.

»Wir sollten uns ihnen zu erkennen geben.«

»Mia?« Grandma wartete, bis ich sie ansah. »Ich kann dich verstehen und ein Teil von mir denkt wie du, aber sie sind nicht bereit und vielleicht werden sie niemals sein.«

»Wir haben in den vergangenen Jahrhunderten so viele von ihnen zu uns geholt.«

Unter anderem meinen Vater, der ursprünglich als Mensch geboren worden war und auch so gestorben wäre, hätte er sich nicht Hals über Kopf in meine Mutter verliebt und wäre in die mystische Welt, unsere Welt, hinüber gewechselt.

Frauen waren Hexen.

Männer waren Zauberer.

So war es seit jeher und so würde es immer sein.

Um das Gleichgewicht zu wahren.

Um die Welt zumindest vor den gröbsten Fehlern und den schlimmsten Verschmutzungen zu schützen, der sie seit vielen Jahren ausgesetzt war, nachdem der Mensch beschlossen hatte, das Geld wichtiger war als das Leben.

»Du bist ein Ebenbild deiner Eltern. Voller Hoffnungen und Träume, was die Welt angeht. Aber ein Teil von dir stammt von mir, denn du und ich, wir sind beide nicht blind und wir sehen, dass der Erde die Zeit davonläuft.« Sie nahm den Teigklumpen, aus dem gleich Kekse werden würden, aus der Schüssel, legte ihn auf den Tisch und griff nach dem Ausroller. »Die Alten von uns stecken genauso fest, wie die Politiker der heutigen Zeit. Sie wollen oder können nicht begreifen, dass ihr Nichtstun und ihr Festhalten an den Gesetzen uns immer weiter auf einen Punkt zusteuert, an dem eine Umkehr unmöglich ist.«

Ich schnaubte frustriert. »Dann müssen wir sie eben mit der Nase darauf stoßen, dass sie endlich ihre knorrigen Rinden und Äste hochkriegen und etwas tun müssen.«

Grandma schmunzelte. »Genau das hat dein Dad schon vor vierzig Jahren gesagt. Das Problem ist nur, dass wir kaum eine Chance haben, zu den Alten gelassen zu werden. Und ich weiß nicht, ob ich bereit bin, gegen die Gesetze zu verstoßen, um uns der Welt zu zeigen. Menschen sind grausam.«

»Nicht alle«, murmelte ich unwillkürlich, denn obwohl ich unseren Nachbarn aus unerfindlichen Gründen nicht ausstehen konnte, hatte ich nicht vergessen, wie er zwei Tage nach seinem Einzug nebenan eine Katze auf der Straße davor bewahrt hatte, überfahren zu werden, und soweit ich wusste, lebte diese Katze seither bei ihm im Haus.

»Einzelne Menschen sind wundervoll, Mia, besonders wenn sie durch die Liebe zu uns kommen.« Grandma lächelte traurig. »Aber diese Welt besteht leider nicht nur aus Verliebten. Auch wenn das vieles leichter machen würde.« Sie fing an zu grinsen. »Unter anderem den Umgang mit einem sehr gut aussehenden Herrn, dessen Namen wir nicht nennen wollen, nicht wahr?«

Ich stöhnte auf und Grandma begann zu lachen.


Kapitel 1

Der Kirschbaum in unserem Garten stand seit zwei Tagen in voller Blüte, was, nicht nur für mich als Gärtnerin, jedes Jahr aufs Neue ein wirklich wunderschöner Anblick war, vor allem am Morgen oder abends, wenn die für Menschen unsichtbaren Feen in ihren leuchtenden Farben um ihn herumschwirrten und den gerade erst erwachten Bienen dabei halfen, die größten und nektarreichsten Blüten zu finden.

Ich liebte den Frühling.

Das langsame Erwachen der Natur, die ersten Blüten, die in unzähligen Farben aus dem noch winterkalten Boden krochen, beginnend mit den unschuldig weißen Schneeglöckchen, dicht gefolgt von Krokussen in allen Farben, Narzissen, Tulpen und was es sonst noch alles in der Natur gab, das jeden Frühling zu einer unglaublichen Farbenpracht machte. Mein Garten war ein Mekka für Blumen und auch für die ersten Insekten, sobald sie ihre langen, neugierigen Rüssel und filigranen Flügel aus dem Winterschlaf reckten und sofort anfingen, nach dem köstlichem Nektar der Blüten und einem sicheren Zuhause für die nächste Generation zu suchen, wobei ich ihnen half, so gut ich konnte.

An den Wänden unserer Terrasse hingen zig Bienenhäuser in unterschiedlichen Formen und Größen, und Grandma hatte zusammen mit einem Tischler aus der Nachbarschaft, mit dem sie eine jahrelange und enge Freundschaft verband, noch viele weitere Nisthilfen zum Stehen und Aufhängen gebaut.

Sprich, mit den ersten wärmenden Sonnenstrahlen und den ansteigenden Temperaturen im Frühjahr, begann es in unserem Garten zu summen und zu brummen – es war eine Freude.

»Noch mehr Bienenhäuser?«, wurde ich abschätzig gefragt und verkniff mir ein genervtes Stöhnen, denn ich wusste genau, wer da hinter mir am Zaun stand, und wäre ich nicht so höflich, würde ich ihn einfach ignorieren. Aber das würde Grandma gar nicht gutheißen und ich wollte es mir nicht mit ihr verscherzen, daher legte ich Hammer und Nagel zur Seite, mit denen ich ein weiteres Bienenhäuschen zu den anderen an die Wand hängen wollte, und drehte mich um.

»Schade, dass Sie nicht allergisch sind. Mein Leben wäre um so vieles ruhiger, wenn Sie Ihr Haus im Frühling nicht verlassen könnten«, erklärte ich zuckersüß und lächelte dabei gerade so höflich, um Julian Anderson wissen zu lassen, dass ich ihn für eine lästige Fliege hielt, die mir meine Zeit stahl, wofür ich ihm nur zu gern eins mit der Fliegenklatsche übergebraten hätte.

»Ich merke schon, Sie lieben mich abgöttisch«, konterte er spöttisch und wieder einmal kam in mir der dringende Wunsch auf, ihm eine dicke, haarige Warze auf die Nase zu zaubern.

Er würde so gut damit aussehen. Fand sogar Grandma, die seit Monaten über uns lachte, aber da ich nun einmal eine gute Hexe und Frau von Welt war, würde ich anständig bleiben und nur von der Warze träumen, statt sie ihm zu verpassen. Dabei wäre es keine große Mühe. Solche kleinen Hexereien brauchten nicht viel von der mystischen Kraft, die uns durchfloss, sofern man sie nicht dauerhaft machen wollte.

Aber erstens waren solche Hexereien verboten und zweitens kümmerte ich mich sowieso lieber um die Natur und half dem einen oder anderen Pflänzchen mit meinen Kräften ein bisschen auf die Sprünge.

Das war nämlich erlaubt.

Alles, was zum Vorteil der hiesigen Natur war, war erlaubt, was für Hexereien oder Zaubereien gegenüber Menschen nicht galt, und wer sich nicht daran hielt und erwischt wurde, konnte im schlimmsten Fall aus der mystischen Welt ausgeschlossen und dazu verurteilt werden, sein übriges Leben als Mensch zu verbringen.

Keine sehr erhebende Vorstellung. Im Gegenteil, ich fand sie furchtbar, und darum kannte ich unsere Gesetze genau und ich hielt mich auch an sie.

Na gut, meistens zumindest.

Ein paar Mal hatte ich der Natur schon einen kleinen Schubs gegeben und dafür gesorgt, das seltene Arten von Pflanzen und Tieren unerwartet an Stellen auftauchten, wo sie nicht heimisch waren und wo eigentlich gerodet und gebaut werden sollte. Da die Menschen seltene Arten zu schützen versuchten, hatte das ihre Bauvorhaben dadurch eine Weile ins Stocken gebracht oder ganz verhindert – wobei ich immer am glücklichsten war, kam es zu Letzterem.

Gegen solche kleinen Zaubereien sagte niemand was, sofern sie nicht zu sehr in das Leben der Menschen eingriffen, obwohl ich natürlich trotzdem Geldstrafen dafür hatte zahlen müssen. In derartigen Fällen tat ich es sogar gerne, denn solche Strafen wurden in unserer fantastischen Welt seit jeher für den Schutz der Natur eingesetzt, in dem wir Land aufkauften, gern Wälder oder andere Biotope, die dann von uns in Ruhe gelassen oder bei Bedarf vorher renaturiert wurden. Das war mir jeden Cent wert, den ich erübrigen konnte, auch wenn ich davon leider nie genug hatte.

Als selbstständige Gärtnerin mit einem guten Ruf verdiente ich nicht schlecht, denn ich arbeitete nicht nach den normalen und meist ziemlich langweiligen Standards, sondern sorgte bei meinen Kunden dafür, dass der Garten, egal ob groß, klein, mit wenig oder viel Budget, immer perfekt zu ihren Vorstellungen und Wünschen passte. Selbst aus einem kleinen oder schmalen Balkon konnte man eine Oase der Natur erschaffen, wenn man denn wollte, und das taten in den letzten Jahren immer mehr Menschen, was mich insgeheim doch wieder hoffen ließ, dass noch nicht alles verloren war.

Mit einem gewissen Architekten, der nebenan lebte, konnte ich finanziell aber noch lange nicht mithalten. Noch ein Grund, mich über den Kerl zu ärgern, wenn auch ein alberner, das war mir sehr wohl bewusst. Aber solange ich es ihm nicht auf die Nase band, konnte er auch nicht darüber lachen, also würde ich brav den Mund halten und lieber die Nase über ihn rümpfen, wann immer er in meinem Blickfeld erschien.

»Passen Sie lieber mit dem Hammer auf. Nicht, dass Sie sich noch einen Finger platt hauen.«

Oh, er verdiente so was von eine dicke Warze – und zwar an seinem verdammt knackigen Hinterteil, das ich am Tag seines Einzugs nebenan natürlich nur zufällig bemerkt und mir auch seither nie mehr angesehen hatte.

Ich konnte von Glück reden, dass bereits seit Anfang dieser Woche die Sonne schien und es für April auch angenehm warm war, sonst hätte mich wegen meiner schamlosen Lüge jetzt mit Sicherheit der Blitz getroffen, dicht gefolgt einem Gewitter mit sintflutartigen Regenfällen.

Das war vor langer Zeit angeblich einem Zauberer passiert, der versucht hatte, ihm die Frau, die er liebte, mit einem Zauber näherzubringen. Leider mochten die Naturgeister solche Dinge gar nicht gerne und hatten ihm zuerst eindeutig gezeigt, was sie davon hielten, eine Frau verzaubern zu wollen, und ihn danach bei der Obrigkeit angezeigt. Was aus dem Zauberer geworden war, wusste keiner. Oder es wollte niemand darüber reden. Ich hatte mich jedenfalls nicht getraut, eine Anfrage für die Archive zu stellen, um nachzuforschen, denn solche Dinge gehörten im Normalfall nicht in den Aufgabenbereich von Naturhexen, wie sie unsere Familie seit Generationen hervorbrachte.

Dafür gab es Gelehrte. Nicht, dass ich je einen gesehen oder kennengelernt hatte. Es war nicht mehr so wie zu den früheren Zeiten, wo Hexer und Zauberer außerhalb der Familie Kontakt gehalten und sich ausgetauscht hatten. Alles, was ich über die Welt der Magie wusste, hatte ich von meinen Eltern und meiner Grandma gelernt, denn meine Kontakte beschränkten sich seit meiner Kindheit auf völlig normale Menschen – unter anderem den andauernd meine armen Nerven strapazierenden Mistkerl von nebenan.

»Das würde Ihnen gefallen, was?«, fragte ich spitz und warf ihm einen finsteren Blick zu, als er heiter lachte. »Träumen Sie nur weiter von meinen Fingern. Jedem sein Fetisch.«

»Von Ihnen und Ihren langen, schlanken Fingern träumen? Aber gerne doch.«

Herrje, dieser Mann. »Was wollen Sie, Anderson?« fragte ich mürrisch und wandte mich wieder meinem Bienenhäuschen zu, denn ich hatte Wichtigeres zu tun, als mich mit dem nervigsten Nachbarn der Welt zu zanken.

Später stand ein Termin bei einem langjährigen Kunden in seinem Garten an, den er seit Jahren umgestaltete und dabei nie ein Ende fand. Aber er hatte wunderbare Ideen und ich half nur zu gerne dabei, den kleinen Teich zu bepflanzen, den er sich im letzten Herbst hatte setzen lassen und dessen Umrandung jetzt natürlich dem übrigen Garten und seiner Vegetation angepasst werden musste. Was für mich bedeutete, ich hatte freie Bahn, denn Mister Willis liebte meine Vorschläge und er war so reich, dass er alles umsetzen konnte, was er wollte.

So wie seinen Wintergarten vor zwei Jahren, in dem heute mehrere Südfrüchte gediehen, die ich ihm damals aus Europa organisiert hatte, weil er nur das Original wollte und nichts, das irgendwo in einem riesigen Gewächshaus für den Massenmarkt gezüchtet worden war.

»Ich wollte Ihnen nur eine Mitteilung machen.«

Diese Steilvorlage konnte und wollte ich mir nicht entgehen lassen. »Über Ihren baldigen Auszug, wie wundervoll.«

»Himmel«, stöhnte er hinter mir und ich grinste zufrieden. »Nein, Mia, ich ziehe nicht aus, auch wenn Sie dafür vermutlich Geld zahlen würden. Egal. Ich habe in ein paar Tagen jemanden im Garten, der die alte Eiche fällt, es könnte also laut werd...« Er brach mitten im Wort ab, als ich abrupt zu ihm herumfuhr und ihn, den Hammer in der Hand, wütend anstarrte. »Was ist?«

Was ist? Dass er sich das überhaupt zu fragen wagte. »Diese Eiche ist einhundert Jahre alt, Anderson. Sie wissen schon, dass die Erde sich immer weiter aufheizt und wir im Grunde jeden Baum brauchen, um zu retten, was noch zu retten ist? Falls das möglich ist, was ich bei den meisten Menschen bezweifle, die ja offenbar glauben, dass man Geld fressen kann, sonst würde sie nicht so viel Zeit damit zubringen, selbiges zu verdienen, ganz egal was oder wen sie dafür aus dem Weg räumen müssen. Sie dürfen diese Eiche nicht fällen!«

»Sie lieben die Natur wirklich, nicht wahr?«, fragte er leise und ich deutete auf seinen und hinterher meinen Garten, denn auch seiner war eine blühende Oase – den Vormietern sei Dank, und er hatte im letzten Jahr nichts daran geändert, was ich ihm hoch anrechnete, aber natürlich niemals sagen würde –, was ihn seufzen ließ, ehe er nickte. »Ich weiß, Mia, und ich verstehe Sie, glauben Sie mir das bitte. Ich liebe meinen Garten und ich habe wochenlang mit mehreren Baumpflegern gesprochen, um eine Lösung für diese wirklich wunderschöne Eiche zu finden, aber es gibt keine. Jedenfalls keine machbare. Ihre Wurzeln fangen langsam an, sich unter das Fundament zu schieben. Bei meiner Terrasse wäre mir das völlig egal, die könnte ich umbauen, aber es geht hier um mein Haus.«

Na klar, und das kam natürlich vor jedem Baum. Ich konnte mich gerade noch beherrschen, das nicht laut zu sagen, weil es Anderson gegenüber unfair gewesen wäre, denn ich kannte die Eiche seit Jahren und Grandma und ich hatte schon unzählige Male versucht, ihn dazu zu bringen, sich in die andere Richtung zu neigen, aber dieser Baum war unglaublich stur und weigerte sich beharrlich, auf uns zu hören.

Dass in seinem Inneren Baumfeen lebten, dass er das Haus gefährdete, dass man ihn früher oder später fällen würde – wir hatten jedes Argument zig Mal mit ihm durchexerziert, und ich würde das heute Abend, sobald es dunkel genug war, dass ich mich still und heimlich auf Andersons Grundstück schleichen konnte, ein weiteres Mal tun. Es musste einen Weg geben, diese alte Eiche zum Einlenken zu bewegen, denn ihr weiteres Leben hing davon ab. Aber vorher musste ich Anderson von seinem Plan abbringen, wenigstens für eine Weile.

»Julian!«, fluchte ich unbeherrscht, obwohl ich ihn seit jeher absichtlich beim Nachnamen nannte, um ihn zu ärgern. Was er mit Sicherheit wusste – egal.

»Ja, ich weiß. Sie sind Gärtnerin mit Leib und Seele und Sie lieben jeden Dornenbusch, aber ich muss hier vernünftig sein.« Er hob in einer ratlosen Geste beide Arme. »Natürlich werde ich die Eiche so schnell es geht ersetzen, ein bisschen Schatten hätte ich in meinem Garten doch gerne, vor allem im Sommer. Wenn es wieder so heiß wird, wie letztes Jahr … Prost Mahlzeit.«

Und wer war daran wohl schuld?, dachte ich erbost, verbot mir aber, ihm die Frage an den Kopf zu werfen, weil er sie ohnehin nicht verstanden hätte. Das taten leider immer noch zu wenige Menschen, von denen einige nicht weiter als von der Wand bis zur Tapete dachten, sobald es um die Themen Naturschutz und Klima ging.

Menschen waren so arrogant und sahen nur sich und ihren eigenen Vorteil. Wehe, man bat sie darum, sich auch nur etwas einzuschränken, um die Welt zu einem besseren, schöneren und gesünderen Ort zu machen. Sie schrien sofort Zeter und Mordio und faselten von Freiheit und Selbstbestimmung, die sie dann mit Waffengewalt verteidigten. Und was kam dabei heraus? Pro Jahr bis zu 50.000 Tote allein durch Schusswaffengebrauch. Und das nannten sie dann Selbstbestimmung. Die Dummheit kannte bei vielen Menschen absolut keine Grenzen, besonders wenn es um ihren persönlichen Profit und ihre eigene Faulheit ging, was ich jeden Tag in unserer Nachbarschaft sah, wenn die Leute mal wieder mit dem SUV die fünfhundert Meter zum nächsten Café fuhren, statt zu Fuß zu gehen oder ein Fahrrad zu benutzen.

Es war zum Kotzen.

Die Menschen zerstörten die einzige Welt, die wir besaßen, nur um immer mehr Reichtümer anzuhäufen, die sie am Ende auch nicht vor dem Tod retten würden, denn mit Geld konnte man sich keinen neuen Planeten kaufen.

Wüssten die Menschen, in welcher fantastischen Traumwelt sie in Wirklichkeit lebten – aber das war Utopie, da hatte meine Grandma schon recht. Selbst wenn sie es wüssten, würden sie all die Wunder um sie herum wahrscheinlich auch nur für ihre eigenen Zwecke ausbeuten wollen. Menschen waren furchtbare und zumeist auch grausame Gestalten, die die Erde überhaupt nicht verdienten, und auch wenn ich kein großer Superstar war, der die Welt im Alleingang retten konnte, so konnte dich doch wenigstens versuchen, eine Eiche zu retten.

»Sie dürfen den Baum nicht fällen.«

Anderson seufzte erneut. »Mia ...«

Ich winkte ab, was ihn verstummen ließ. »Ich bin Gärtnerin und ich habe Kontakte. Ich finde einen besseren Weg. Sagen Sie den Baumpflegern ab.«

»Aber ...«

»Tun Sie es!«, fuhr ich ihm über den Mund und deutete mit dem Hammer auf ihn. »Der Baum kann schließlich nichts dafür, dass vor vielen Jahren einfach so ein Haus neben ihm hingebaut wurde.«

Anderson blinzelte verdutzt. »Nein, natürlich nicht, aber ...«

»Na also«, unterbrach ich ihn erneut. »Dann können Sie mir ja wohl ein paar Tage oder gleich Ihr restliches Leben geben, damit ich versuchen kann, die Eiche zu retten, oder nicht?«

Es dauerte etwas, bis er auf meinen Wortschwall reagierte, und mich wunderte kein Stück, dass er sich vor allem an einem Satzteil aufhing. »Mein restliches Leben, ja?«

»Das sehr kurz sein wird, wenn sie nicht aufhören, so breit zu grinsen«, grollte ich und drohte ihm mit dem Hammer. »Sie wissen doch, mein Leben wäre so friedlich, wenn Sie ...«

»Ja, ja, ja«, kam er mir zuvor und lachte, als ich schnaubte. »Wie gut, dass ich nicht allergisch bin. Auf gar nichts, was ich noch mal betonen möchte, bevor sie noch auf die Idee kommen, mir eine Birke in den Garten zu stellen. Oder sich einen großen Bienenstaat anzuschaffen, weil sie plötzlich Ihre Liebe zu Honig entdecken … Ach, liebste Mia, was würden mir Ihre finsteren Blicke und unsere produktiven Gespräche fehlen, wenn ich von einer Allergie niedergestreckt werden würde.«

Es mochte ja sein, dass ich den Scherz mit der Allergie etwas übertrieben hatte, vor allem in letzter Zeit, aber er musste sich deswegen nicht noch extra über mich lustig machen. Wobei ich ihm das schlecht zum Vorwurf machen konnte, weil ich es an seiner Stelle genauso gemacht hätte. Verdammt.

»Sie kriegen gleich diesen schweren Hammer an den Kopf«, drohte ich und wurde nur weiter angegrinst. »Was?«, fragte ich, obwohl ich es doch mittlerweile besser wissen sollte.

»Immer diese haltlosen Drohungen.«

Na warte, dachte ich. »Wie wäre es mit einem Wespennest unter Ihrem Bett?«

»Als würden Sie das den armen Tieren antun«, konterte er frech und lachte, weil ich die Augen verdrehte, denn natürlich würde ich keiner einzigen Wespe zumuten, auch nur einen Fuß in sein Schlafzimmer setzen zu müssen. Wahrscheinlich war es eine lieblose, kalte Wüste voller extravaganter Möbel, ohne viel Liebe gestaltet und natürlich ohne alles, was ein Schlafzimmer, überhaupt ein Haus, erst so richtig gemütlich machte.

Mich schauderte bei der Vorstellung. »Also?«, fragte ich, um das Gefühl wieder loszuwerden und auf den Punkt von unserer Zankerei zurückzukommen. »Was ist nun mit der Eiche?«

Anderson schob amüsiert die Hände in die Taschen einer sehr gut sitzenden Anzughose – wahrscheinlich ein teures Teil von einem Herrenausstatter, der edle Maßanfertigungen anbot. Ich konnte mir jedenfalls nicht vorstellen, dass ein Mann wie Julian Anderson Anzüge von der Stange kaufte. Als Architekt musste er ja schließlich etwas hermachen und nachdem ich ihn gegoogelt hatte, wusste ich, dass Anderson von einer schicken Waldhütte bis hin zum Hochhaus schon alles gebaut hatte und derzeit ein Großprojekt am Hafen betreute, das, sobald es fertig war, die ganze Gegend aufwerten würde, denn die Stadt hatte sich gegen die anfangs geplante Hafenerweiterung entschieden – nach anhaltenden, lautstarken Protesten der Bewohner – und baute stattdessen einen Park, Freizeitanlagen und ein kleines, aber feines Center, in dem vom Eisverkäufer mit seinem Wagen über eine Bibliothek bis hin zum edlen Sterne-Restaurant alles vertreten sein sollte.

»Also gut, ich bin neugierig, wie Sie das Problem lösen. Ein Monat. Ich verschiebe die Termine mit den Baumpflegern um einen Monat«, antwortete Anderson und wippte dabei fröhlich grinsend auf den Fersen. »Und Sie trinken mit mir einen Kaffee, weil ich so nett war und auf Sie höre.«

Hatte ich ihm aus Versehen einen Schlag versetzt und jetzt hatte er eine schwere Kopfverletzung und Wahnvorstellungen? Der arme Mann. Ich sollte einen Notarzt rufen. Oder ihn kräftig in seine Schranken weisen.

»Wovon träumen Sie nachts?«, fragte ich und überlegte, ob es wohl als Unfall durchging, wenn ich den Hammer nach ihm warf. Bei meinen Wurffertigkeiten würde der sowieso im Zaun landen. Aber dann müsste ich für die Reparatur bezahlen, also eine eher schlechte Idee.

»Das wollen Sie nicht wissen«, stichelte er und schürzte die Lippen. »Jetzt sind es übrigens schon ein Kaffee und ein großes Stück Küchen.«

Ich musste mich verhört haben. »Bitte?«

»Sie bezahlen natürlich.«

Sag nichts, sag nichts, sag nichts, betete ich mir dreimal vor, ehe er auf die Idee kam für die Eiche meine Seele oder meinen Erstgeborenen – sofern ich je einen haben würde – zu fordern. »Na schön«, stimmte ich zähneknirschend zu und stemmte die Hände in die Seite, wobei ich mir den Hammergriff hart in die Seite bohrte. »Kaffee und Kuchen. Aber hier bei mir. Wir backen selbst. Gekaufter Kuchen kommt Grandma und mir freiwillig nicht ins Haus, geschweige denn auf den Teller.«

»Einverstanden. Wann?«

»Nicht übermütig werden, Anderson«, wehrte ich sofort ab, weil ich das erst mal mit Grandma klären musste – die sich vor Lachen ausschütten würde, wieder einmal. Wenn das zwischen Anderson und mir so weiterging, würde sie früher oder später anfangen, das Aufgebot zu organisieren, ganz nach dem Motto, was sich neckte, das liebte sich. Bei meinen Eltern war es früher genauso gewesen. »Ich lade Sie ein, wenn das Problem mit der Eiche gelöst ist, keinen Tag früher.«

»Sie verhandeln echt hart«, konterte er und tat so, als würde er darüber nachdenken müssen.

Ich grinste. »Es steht Ihnen natürlich frei abzulehnen.«

»Natürlich.« Er lachte. »Gut. Einverstanden. Ich warte dann auf Ihre Einladung. Einen wundervollen Tag, Mia Canvers.«
Schnaubend wandte ich mich ein weiteres Mal dem kleinen Bienenhäuschen zu, das endlich von mir aufgehangen werden wollte, und ignorierte das aufbrandende Gelächter hinter mir, das anhielt, bis er im Haus verschwand und die Tür hinter sich schloss. Seufzend sah ich über die Schulter auf den schlichten, hüfthohen Holzzaun, der unsere Grundstücke trennte und der keinen Sichtschutz bot, da zwischen den einzelnen Latten noch genug Platz gelassen worden war, damit kleinere Tiere wie Igel ihn problemlos durchqueren konnten.

Eine zwei Meter hohe Steinmauer mit dickem Stacheldraht und einem zehntausend Volt Sicherheitszaun wäre mir gerade lieber gewesen. Am besten eine Mauer mit Schallschutz, damit ich den Mistkerl weder sehen noch hören musste.

»Miau.«

Mein Blick wanderte verwundert durch Andersons Garten, doch ich entdeckte die Katze erst auf den zweiten Blick. »Nanu? Seit wann darfst du denn draußen herum stromern?«, fragte ich das hübsche Tier, das sich hinter einem Blumenkasten auf der Terrasse versteckte.

Ich mochte Tiere. Egal welche. Laut meiner Mom lag das an unserer Natur und Haustiere waren bei Hexen und Zauberern wohl völlig normal – zumindest hatte meine Mom mir das vor langer Zeit erzählt, als ich mir in der zweiten Klasse auf einmal ein Tier gewünscht hatte. Aber damals hatte die Zeit begonnen, als wir wegen der Arbeit meiner Eltern oft umgezogen waren, und so ein Leben wollten sie keinem Tier zumuten. Und als sie von ihrer Friedensmission im Sudan nicht zurückgekommen waren, hatte ich für viele Jahre andere Dinge im Kopf gehabt als ein Haustier, woran sich bis heute nichts geändert hatte.

Trotzdem hatte ich Tiere gern, die Kleinen genauso wie die Großen, und die Katze, die Anderson gerettet hatte, wirkte auf mich nicht so, als würde sie sich hinter dem Blumenkasten sehr wohlfühlen. Wahrscheinlich war sie nur aus Versehen aus dem Haus geschlüpft.

»Hey, du Süße«, lockte ich und ging zum Zaun hinüber. Die Katze maunzte, kam aber hinter dem Blumenkasten hervor und tapste langsam in meine Richtung, wobei sich ihr Schwanz hob. »Na du«, sagte ich und beugte mich über den Zaun. »Ich wette, du bist ausgebüxt. Wahrscheinlich vermisst er dich schon.« Als sie wenig später ihren Kopf an meiner Hand rieb, lächelte ich. »Ich könnte nett sein und bei ihm klingeln.« Die Katze maunzte erneut und hüpfte danach kurzerhand auf meine Schulter, was mich im ersten Augenblick zusammenzucken ließ, aber dann lachte ich und richtete mich vorsichtig auf. »Dir geht’s eindeutig gut, hm? Na dann komm mal mit. Wir hängen jetzt erst mal das Bienenhäuschen auf und hinterher gucke ich, ob ich vielleicht ein Leckerchen für dich finde, bevor ich nett bin und dich nach Hause bringe, du Süße.«

»Süßer.«

Ich zuckte erneut zusammen und drehte mich langsam um, weil ich die Katze nicht erschrecken wollte. »Was?«

Anderson, der in der offenen Terrassentür stand und zu uns sah, grinste. »Sie ist ein Er und heißt Gardner. Der Tierarzt hat sich über meine Unwissenheit köstlich amüsiert, als ich bei ihm war, um die Katze kastrieren zu lassen. Tja, am Ende waren die Eier ab, ich litt während der Genesungsphase tagelang mit ihm und seither geht es dem hübschen Kerl blendend und er ist bei mir der Herr im Haus … Und nein, dazu werden Sie jetzt nichts sagen, ich sehe es Ihnen an, Mia.«

»Na gut, dann nächstes Mal«, drohte ich halbherzig, weil ich damit beschäftigt war, mir das Lachen zu verkneifen, als er mit einem Seufzen die Augen verdrehte und dann zu uns kam. Ich hob die Hand und streichelte den Kater. »Mach´s gut, du Süßer. Und denk dran, wenn du das nächste Mal abhaust, bei mir gibt es Leckerchen.«

»Miau.«

Anderson lachte leise, pflückte seinen Kater behutsam von meiner Schulter, der sich das ruhig gefallen ließ, und ich blickte den beiden Kerlen nach, bis sie wieder im Haus verschwunden waren, um mich anschließend endlich dem Bienenhäuschen zu widmen. Und nach einem Blick auf die Uhr zog ich das Tempo ein wenig an, da ich sonst zu spät zu meinem Termin kommen würde und wenn ich eines nicht ausstehen konnte, dann war es Unpünktlichkeit.

***

Der Tag endete mit einem zufriedenen Kunden und einem Teller Nudeln mit Fleischbällchen, der abgedeckt in der Küche auf mich wartete, während ich im Wohnzimmer den Fernseher laufen hörte. Es müsste Zeit für Grandmas Lieblingsserie sein, und da unser Fernseher im Wohnzimmer größer war als der in ihrem Zimmer oben, sah sie selbige lieber hier unten.

Grinsend mopste ich mir ein Fleischbällchen und ging unter die Dusche, um mich hinterher in Ruhe meinem Abendessen zu widmen, das wir so oft es ging zusammen aßen, aber wenn ich arbeitete, schaute ich nicht auf die Uhr und Grandma verstand das, denn sie hatte früher in einem Blumengeschäft gearbeitet und sich privat mit Gartenarbeiten in der Nachbarschaft immer etwas Geld dazuverdient.

Wir waren nach meinem College-Abschluss lange Zeit wie Nomaden in den USA herumgezogen. Mit einem Wohnwagen einfach durchs Land gefahren, hatten jeden Job angenommen, um Geld zu verdienen, und als ich schließlich die Gelegenheit zu einer richtigen Ausbildung bekam, waren wir einige Jahre in Wyoming geblieben. Aber wie meine Eltern, die es nie zu lange an einem Ort ausgehalten hatten, waren wir am Ende unruhig geworden und weitergezogen. Arbeit konnten wir beide überall finden und hatten das auch getan.

Und wir wären immer noch unterwegs, hätte uns die Zeit nicht ein Schnippchen geschlagen, denn Grandma ging auf die Achtzig zu, und auch wenn sie gesund und munter war, war sie längst nicht mehr die Schnellste und brauchte mehr Zeit für die ganz normalen Dinge im Alltag. Irgendwann war es nicht mehr praktikabel, in einem Wohnwagen herumzuziehen, also hatte ich, zu der Zeit waren wir gerade oben in New York unterwegs, angefangen, im Internet und in Zeitungen nach einem Zuhause für uns zu suchen.

Es hatte drei Jahre gedauert, am Rand von Boston das kleine Häuschen zu finden und sesshaft zu werden, doch mittlerweile lebten wir seit fünf Jahren hier und nachdem Grandma unseren und einige Gärten in der Nachbarschaft mit meiner Hilfe nach und nach in wunderschöne grüne Oasen umgestaltet hatte, war sie zu der Erkenntnis gelangt, dass sie zu alt war, um sich einen neuen Job zu suchen. Stattdessen hatte sie sich entschieden, als ich ihr mehrfach versicherte, genug Geld für das Haus und den Unterhalt für uns zu verdienen, endlich ihren Lebensabend zu genießen, der ihr meiner Meinung nach längst zustand, was ich ihr aber nie gesagt hatte, denn ich liebte meine Arbeit genauso, wie Grandma ihre geliebt hatte, und mit ihrem Freund Devin hatte sie immer noch ab und zu die Möglichkeit, ein bisschen in einem anderem Garten als unserem herumzuwerkeln, nämlich in seinem.

»Der Mann hat begnadete Hände, sobald es um seine Holzkunst geht, aber er hat absolut keine Ahnung von Blumen.«

Ich konnte mich noch gut an ihr tiefes Seufzen und an ihren resignierten Blick erinnern, nachdem sie mir das erzählt hatte, weil mich beides zum Lachen gebracht hatte, aber keine Woche später hatte sie damit angefangen, sich um seinen Garten, seine Veranda und den schmalen Grünstreifen vor seinem Haus zu kümmern. Devin hatte sie einfach machen lassen und sich dafür mit mehreren detailverliebten Holzfiguren und einer Kiste voll mit Bienenhäuschen bedankt, und obwohl ich den Mann bisher nur ein paar Mal getroffen hatte, tat er Grandma gut, das war unübersehbar, und ich war fest entschlossen, in diesem Jahr im Sommer mindestens zwei Wochen Urlaub zu machen, um mir diesen Tischler genauer anzusehen. Als gute Enkelin war das schließlich mein Job.

»Mia? Bist du über dem Teller eingeschlafen?«

Ich lachte. »Nein, ich überlege mir nur gerade eine Strategie, wie ich in meinem Sommerurlaub herausfinden kann, ob Devin eine passende Partie für dich ist.«

Sie stöhnte laut. »Wir sind nur gute Freunde.«

Komisch, das sagte sie ständig, und ich glaubte ihr das nicht eine Sekunde, aber ich war natürlich viel zu höflich, um ihr zu widersprechen. »Ja ja.«

»Ja ja, heißt, leck mich am Arsch«, grollte Grandma nebenan und ich konnte sie schnauben hören, als ich erneut lachte. »Sieh zu, dass du herkommst, die Nachrichten fangen gleich an. Oh, und schau vorher in den Kühlschrank. Da steht noch Nachtisch für dich.«

Schokoladenpudding. Lecker. Genießerisch seufzend nahm ich mir einen Löffel, wusch schnell meinen Teller und die Gabel ab und ging dann zu Grandma hinüber, die es sich wie üblich in ihrem breiten Ohrensessel gemütlich gemacht hatte und auf dem Schoß ihren E-Book-Reader zu liegen hatte, denn sie liebte Bücher und nutzte jede freie Minute, um ihre Nase in eines zu stecken, wenn auch in digitaler Form, denn die Schrift in den Druckbüchern war ihr mittlerweile einfach zu klein.

»Was liest du gerade?«, fragte ich neugierig und warf einen Blick auf den Fernseher, wo sich der Nachrichtensprecher noch über eine politische Debatte im Repräsentantenhaus ausließ. Ich verdrehte bloß genervt die Augen, denn was die Demokraten und Republikaner jetzt wieder verzapften, wollte ich gar nicht so genau wissen.

»Den neuen Thriller von Preston & Child. Knappe fünfzig Seiten und schon liegen überall Leichen herum.«

Sie lachte, als ich stöhnte, denn während sie Thriller liebte, las ich lieber eine schöne Romanze, sofern ich dazu kam, denn nach einem langen Arbeitstag hatte ich meist keine Lust mehr, mir ein Buch aus dem Regal zu holen oder die App auf meinem Handy zu öffnen. Höchstens, um noch ein paar lustige Videos zu schauen oder ein bisschen auf Facebook herumzusurfen und meine E-Mails abzurufen.

Was ich allerdings vorhin schon getan hatte, daher gab es in meinen Augen keinen Grund, das Handy heute noch mal in die Hand zu nehmen. Außer um den Wecker zu aktivieren, weil ich morgen früher aufstehen musste, fiel mir ein.

»Ich mache morgen früh Pancakes, bevor ich in die Stadt ins Gartencenter muss. Mister Willis hat seine Pläne schon wieder geändert und er bezahlt sehr gut dafür, dass ich neben seinem Schwimmteich jetzt noch einen hübschen Steingarten anlege.«

Grandma gluckste, während sie zum Fernseher schaute und abfällig schnaubte – es ging immer noch um die Diskussion im Repräsentantenhaus. »Wie viele Quadratmeter Gartenfläche hat dieser Mann eigentlich?«

Gute Frage. Ich hatte keine Ahnung, weil ich ihn nie gefragt hatte. »Das weiß ich nicht mal. Er hat angefangen die linke Seite umzugestalten und mittlerweile sind wir bei der rechten, wo er noch einiges an reiner Rasenfläche hat, die ihm so nicht gefällt, aber ich habe ihm geraten, zumindest einen Teil zu lassen, weil er Platz für einen Schuppen braucht, in dem er Werkzeug, einen Rasenmäher und so weiter unterbringen kann. Denn er will den Garten so lange er kann, selbst in Schuss halten.«

»Völlig unmöglich«, sagte Grandma, denn sie kannte meine Abrechnungen und Bestellungen, weil sie mir half, den ganzen organisatorischen Kram möglichst aktuell zu halten, damit der Steuerberater nicht jedes Mal einen halben Herzinfarkt bekam, wenn die jährliche Steuererklärung anstand.

Ich nickte. »Ich weiß das, du weißt das und ihm mache ich das auch noch klar. Aber damit er glücklich ist, selbst etwas tun zu können, werde ich ihn überreden, Rasenfläche zum Spielen für seine Enkel zu lassen, die er dann selbst mähen kann, und ich werde ihm beibringen, den Schwimmteich so gut er kann in Schuss zu halten. Der Mann kennt nur ein Hobby, nämlich den Garten, also werde ich aus ihm ein kleines Genie machen, was Pflanzen angeht, und dabei ein Vermögen verdienen.«

Grandma lachte und widmete sich ihrem Buch, als endlich die Nachrichten anfingen, die ich mir einmal pro Tag ansah, um einigermaßen auf dem Laufenden zu bleiben, was in der Welt so los war – auch wenn ich mich hinterher oft über die ständige Ignoranz der Natur gegenüber ärgerte, wenn wieder mal über ein neues Bauprojekt berichtet wurde, für das man einen Fluss umleiten oder ein Moor stilllegen wollte.

Wenigstens hatte das Land aktuell einen Präsidenten, der in puncto Naturschutz und Klima wenigstens versuchte, so einige Dinge zum Besseren zu verändern. Viel erreicht hatte er zwar noch nicht und das würde er auch nicht mehr, so alt wie er war und ohnehin nicht mehr wiedergewählt werden durfte, aber ich klammerte mich an die Hoffnung, dass es nach ihm wieder ein Demokrat – gerne auch eine Frau – ins Weiße Haus schaffte, der dort weitermachte, wo er aufhören würde.

Nach den Nachrichten schaltete ich auf einen Ballerfilm mit Silvester Stallone um, räumte schnell noch die Küche zu Ende auf und wartete dann geduldig ab, bis Grandma so gegen zehn Uhr zu gähnen anfing und sich in ihr Zimmer im Obergeschoss zurückzog.

Ich wartete zur Sicherheit eine halbe Stunde, dann tauschte ich meine gemütlichen Hausschlappen gegen Barfußschuhe aus und huschte im Dunkeln durch unseren Garten, um leichtfüßig über den Zaun in Andersons Garten zu klettern, so wie ich es in den vergangenen paar Jahren oft getan hatte, um nach den Feen und nach dem älteren Ehepaar zu sehen, das vor ihm im Haus gelebt hatte und mittlerweile seinen Ruhestand unten in Florida genoss und mir vergangenes Jahr die Nervensäge von neuem Nachbar beschert hatte.

Ach, Kind, seufzte die dickköpfige Eiche prompt, als ich ihn erreicht und meine Hand auf seine dicke, knorrige Rinde gelegt hatte, um mich mit ihm unterhalten zu können, denn das war meine Gabe als Hexe – ich sprach mit Pflanzen. Egal ob riesiger Baum oder kleines Kraut am Boden, ich konnte mich mit ihnen allen unterhalten und ich tat es beinahe täglich.

Genauso wie es meine Mutter früher getan hatte und wie es Grandma tat, denn unsere mystische Gabe wurde innerhalb der Familie vererbt. Wir konnten sie nicht ändern, nicht aufgeben und nicht verlieren. Na ja, jedenfalls nicht freiwillig.

Eine Naturhexe wurde als solche geboren und starb auch als solche – sofern sie sich nichts zuschulden kommen ließ.

Aber das hatte ich nicht vor, denn mit diesem dickköpfigen Baum zu reden, würde mich zwar mit Sicherheit wieder einiges an Nerven kosten, aber das war es dann auch. Ich war eben nur eine Naturhexe. Dabei hätte ich es als Kind so viel spannender gefunden, mich mit den Hexen zu unterhalten, die mit Tieren sprachen oder die Wasser oder Feuer beherrschten. Doch dazu hatte ich nie eine Gelegenheit gehabt und heute waren andere Dinge in meinem Leben wichtiger und vor allem drängender, denn die Natur brauchte dringend Hilfe, für die ich zuständig war, obwohl ich damit im Grunde kaum etwas ausrichtete.

Im Gleichklang mit der Natur – das war meine Aufgabe.

Es war die Aufgabe von allen Hexen überall auf der ganzen Welt, während die Zauberer sich um das große Ganze sorgten und kümmerten. Was bedeutete, dass sie bei Bedarf komplette Gebirge versetzen, kleine oder größere Erdbeben auslösen und Vulkane zur Eruption brachten, falls es für den Fortbestand der Erde notwendig war.

Und was für Unwissende auf den ersten Blick immer klang, als wären die Zauberer die Mächtigsten unter uns, war, sobald man genauer hinsah, das Gegenteil der Fall, denn was nützte es dem versetzten Berg, wenn sich Bäume und Pflanzen hinterher weigerten, sich in seiner Nähe anzusiedeln, um mit ihren neuen Wurzeln den Boden zu festigen und zu sichern. Was nützte ein Vulkanausbruch mit Lava und Feuer, wenn hinterher bloß tote Erde zurückblieb, statt neuer, unberührten Natur, die schon seit der Entstehung von Menschen und uns mystischen Wesen auf Lavafeldern wuchs, die aufgestiegene Inseln im Meer furchtbar machte und die die Erde jung hielt.

Kurz gesagt, die Zauberer sorgten für das Grundgerüst, das wir Hexen im Anschluss mit neuem, starken Leben füllten, und darin war ich dank meiner Grandma verdammt gut.

Wenn ich doch nur so gut darin wäre, diese alte Eiche davon zu überzeugen, dass er in die falsche Richtung wuchs. Mit dem Auszug des alten Ehepaars war sogar eine Weile Ruhe gewesen, aber seit Anderson nebenan eingezogen war, hatten Grandma und ich die Veränderungen in der Eiche gespürt. Sie war nicht damit einverstanden, dass das Haus wieder bewohnt war, auch wenn der nervige Mistkerl den Garten – was ich ihm wirklich hoch anrechnete – gelassen hatte, wie er war und mit Sicherheit auch die Eiche nie angerührt hätte, wenn sie nicht so stur wäre, wie sie es nun einmal war.

Du musst endlich damit aufhören, er will dich fällen.

Es ist an der Zeit, Kind. Ich bin alt und festgefahren. Diese Welt ist nicht mehr das, was sie einst war.

Dem konnte ich schlecht widersprechen, aber trotzdem war das kein Grund, um seine dicken Wurzeln mit purer Absicht in die falsche Richtung wachsen zu lassen, damit Anderson einen guten Grund bekam, die Eiche zu fällen.

Du bist gerade mal einhundert, das ist nicht alt.

Spricht das Küken.

Ich schnaubte. Lenk ja nicht ab, du hast ihn vorhin gehört. Was sollen die Feen tun, wenn er dich fällen lässt? Sie leben so gern in dir, das weißt du.

Aus alt mach neu, Kind. Es wird andere Eichen geben.

Aber nicht dich, konterte ich wütend und musste gleichzeitig gegen die Tränen ankämpfen, denn ich wollte und konnte diese sture Eiche nicht einfach aufgeben. Er könnte eintausend oder sogar noch viel mehr Jahre alt werden. Wie kannst du jetzt schon von dieser Welt gehen wollen? Du bist eine Eiche, verflucht. Du wirst noch hier sein, wenn ich längst zu Staub zerfallen bin.

Das ist nicht deine Entscheidung, Kind.

»Das werden wir ja sehen«, grollte ich und fuhr erschrocken zusammen, als sich jemand hinter mir räusperte und dann eine Taschenlampe eingeschaltet wurde.

»Hm, ich könnte jetzt etwas dazu sagen.«

»Sie könnten es auch einfach sein lassen«, erwiderte ich und ärgerte mich mächtig darüber, dass Anderson mich in seinem Garten erwischt hatte. Hatte er den ganzen Abend am Fenster gestanden und darauf gehofft, dass etwas passierte?

»Das dürfte schwierig werden, weil ich nämlich so was von verboten neugierig bin, warum meine kratzbürstige Nachbarin und Katerflüsterin mit grünem Daumen am späten Abend über meinen Zaun klettert, um sich an meiner unschuldigen Eiche zu vergreifen, die ich, wie ich betonen möchte, aus unerfindlichen Gründen nicht fällen darf. Nein, dass du Gärtnerin bist und auf eine bessere Lösung hoffst, die es nicht gibt, zählt nicht.«

Ich verkniff mir ein genervtes Stöhnen und drehte mich zu Anderson um. »Verklag mich.«

»Weswegen? Kuscheln mit einem Baum?«, fragte er, grinste und hielt die Taschenlampe etwas zur Seite, weil sie mich sonst geblendet hätte. »Na gut, wegen Einbruchs könnte ich durchaus die Cops rufen, aber ich mag es mir nicht mit meinen Nachbarn verscherzen, die mich zu Kaffee und Kuchen eingeladen haben. Das kommt bestimmt nicht gut an.«

Sag nichts, betete ich mir wieder einmal stumm vor, flehte gleichzeitig um Geduld, die ich leider nie fand, wenn es um ihn ging, und seufzte am Ende. »Anderson ...«

»Julian«, fuhr er mich an und ich blinzelte irritiert.

»Was?«

»Sag endlich Julian zu mir, Mia, und erzähl mir danach, was das hier soll. Du hättest dir den Hals brechen können, obwohl es ja recht sportlich aussah, wie du über meinen Zaun gehüpft bist. Als wäre dieser Weg nicht sonderlich neu für dich.« Als ich nichts dazu sagte – ich war doch nicht verrückt –, fing er an zu grinsen. »Du bist also wirklich schon öfters über den Zaun. Wie gut, dass ich kein Anwalt bin … Und jetzt rede.«

Kam nicht infrage. »Worüber? Den wirklich wunderschönen sternenklaren Himmel und die richtig scharf aussehende Sichel des abnehmenden Mondes?«

»Man könnte auf die Idee kommen, das Wörtchen scharf mit einem Messer zu assoziieren«, murmelte er und lachte, weil ich daraufhin die Arme vor der Brust verschränkte. »Ich wette, du überlegst dir gerade, ob du es mir zwischen die Rippen oder in den Arsch stechen sollst.«

»Verdient hättest du beides«, erklärte ich ihm und warf mal wieder einen Blick auf seine Nase. Gerade, gut gewachsen, kein übermäßiger Haarwuchs aus den Nasenlöchern – die geplante Warze würde ihm wirklich perfekt stehen.

»Hach, diese Liebenswürdigkeit. Mir würde etwas im Leben fehlen, wenn du mich auf einmal nicht mehr wöchentlich mit dem Tode bedrohen würdest.«

Dass er das Ganze lustig fand, wunderte mich nicht einmal. Allerdings begann ich mich doch langsam ernsthaft zu fragen, wieso wir es nie hinbekamen, uns zu unterhalten, ohne dass es früher oder später zu fragwürdigen Höflichkeiten oder direkten Morddrohungen kam? Eigentlich konnte ich von Glück reden, dass er so viel Humor besaß und mich nicht ernst nahm, da ich natürlich keineswegs vorhatte, ihn zu erwürgen oder mit einem Messer zu traktieren, egal, wie sehr er es verdiente. Allerdings konnte ich es mir vorstellen und das hob meine Laune einfach jedes Mal beträchtlich.

»Du solltest lieber hoffen, dass es bei einer Drohung bleibt«, konterte ich und feixte, als Julian daraufhin genervt aufstöhnte und dabei in einer hilflosen Geste die Arme hob.

»Erzählst du mir jetzt, was du hier machst?«

»Nein.«

Er stöhnte erneut, diesmal resigniert. »Wie erwartet. Na gut, soll ich dir den Weg nach Hause leuchten? Oder möchtest du vielleicht anständig sein und meine Haustür benutzen?«, fragte er als nächstes und zwar hörbar amüsiert, was ich mit einem Schnauben kommentierte, während ich Julian böse ansah.

»Ich kenne diesen Garten wie meine Westentasche«, wehrte ich eisig ab, machte kehrt und stolperte nach zwei Schritten auf einmal über eine Wurzel, die vorher nicht da gewesen war, und noch während ich um mein Gleichgewicht kämpfte, konnte ich die unmögliche Eiche in meinem Kopf lachen hören. »Lass den Unsinn!«, fuhr ich ihn an.

»Ich habe doch gar nichts getan«, warf Julian irritiert ein.

»Ich rede mit der Eiche, nicht mit dir.«

»Mit der Eiche«, wiederholte er und schürzte die Lippen, als ich ihm einen herausfordernden Blick zuwarf. »Ich denke, ich ziehe es vor, das nicht zu kommentieren.«

»Ist auch besser so«, erklärte ich hoheitsvoll und stapfte in die Dunkelheit davon, prallte kurz darauf – war ja klar – gegen den Zaun und beschloss, das zweifache, leise Lachen hinter mir einfach zu überhören, während ich ins Haus ging.

Das war ja wunderbar gelaufen.

Herrje.


Kapitel 2

»Mama? Warum bin ich anders als die anderen Kinder?«

»Weil du eine Hexe bist, mein Liebling.«

»Und deshalb dürfen sie nicht wissen, dass ich mit den Feen oder mit Bäumen spreche?«

»Ganz genau«, antwortete meine Mutter mit einem Lächeln und reichte mir mit einem Löffel etwas von dem leckeren Kuchenteig, den wir gerade machten. »Mhm, Schokolade für meine Naschkatze.«

Ich kicherte und schleckte den Löffel danach gründlich sauber, mit den Gedanken aber immer noch bei der Birke, die mir gestern hinter dem Kindergarten auf der Wiese zugeflüstert hatte, dass ich ruhig ein Stück näherkommen könne.

»Sie hat ihre Blüten auf mich geworfen.«

Mama sah mich überrascht an. »Wer?«

»Die Birke im Kindergarten. Die anderen Kinder haben komisch geguckt, als ich gelacht und danke gesagt habe.« Als Mama besorgt die Stirn runzelte, zog ich eine Grimasse, denn ich wusste ja, dass ich nicht mit Bäumen reden durfte, wenn irgendjemand in der Nähe war, aber manchmal vergaß ich das und jetzt war Mama bestimmt traurig und auch ein bisschen böse. »Entschuldige, Mama.«

»Ach, Liebling, ich weiß doch, wie schwer es dir fällt.« Sie reichte mir mit einem Zwinkern einen weiteren Löffel. »Du bist wie ich, als ich in deinem Alter war. Ich liebte die Pflanzen und die Bäume, die so gerne mit mir flüsterten oder mich vor dem Regen und zu viel Sonne schützten. Eines Tages, wenn du groß bist, findest du bestimmt diesen einen ganz besonderen Baum, der ein guter Freund für dich sein wird. Ich hatte sehr lange einen. Eine alte Buche.«

»Wo ist sie, Mama?«, wollte ich wissen.

»Sie ist leider gestorben. Bei einem schlimmen Erdbeben.«

»Oh«, machte ich traurig und dachte an die große, hübsche Birke. Ich wollte nicht, dass sie starb. »Kriegen wir auch Erdbeben?«

»Das weiß ich nicht, mein Liebling.«

Mama holte die runde Form für den Kuchen aus dem Backofen, stellte sie auf die Arbeitsfläche und ging an den Schrank, um die Butterdose zu nehmen. Ich beobachtete sie gerne dabei und versuchte mir immer zu merken, was sie wann machte, weil ich Kuchen liebte und unbedingt bald selbst einen backen wollte, aber Grandma erklärte mir immer, ich müsse noch etwas wachsen, bis ich das könnte, aber in der Zeit solle ich gut aufpassen und fleißig lernen.

»Weißt du«, begann Mama zu erzählen, während sie Butter mit einem Pinsel in der Kuchenform verstrich – damit der Kuchen später beim Backen nicht am Rand festklebte, hatte Grandma mir mit einem Lächeln erklärt – und sehr konzentriert dabei aussah, »früher, als die Erde noch viel gesünder war, hätte ich dir gesagt, Nein, wir kriegen keine Erdbeben, aber die Welt verändert sich, und das leider Gottes nicht zum Guten.« Sie lachte heiter, als ich sie fragend ansah. »Ich weiß, das verstehst du noch nicht. Hab Geduld, Sonnenschein. In ein paar Jahren bist du groß und klug und verstehst alles.«

Das sagten sie immer. Mama, Papa und Grandma. Dass es noch Jahre dauerte, bis ich so viel, wahrscheinlich sogar mehr, wusste, wie sie es taten, aber ich wollte nicht warten. Das dauerte immer alles so lange. Warum konnte ich nicht schon erwachsen sein?

»Wie lange sind ein paar Jahre?«, fragte ich, weil Mama mir zwar beigebracht hatte, die Uhr an der Wand zu lesen und die Wochentage zu kennen – weil ich, laut Mama und Papa, sehr klug war und damit ich wusste, wann ich in den Kindergarten ging, aber ein Jahr klang so gewaltig und riesengroß.

Mama gluckste. »Laaange, Mia, Schatz. Sehr lange.« Im nächsten Moment schnipste sie mit den Fingern. »Ich weiß etwas. Wir kaufen dir einen Kalender. Der ist immer ein Jahr lang und du kannst jeden Tag bunt anstreichen. So merkst du, wie lang ein Jahr ist und wie viel Geduld du noch lernen musst, bis du groß bist und bis du nächstes Jahr endlich zur Schule gehen kannst. Und jetzt … Hilfst du mir, den Teig schön gleichmäßig in die Form zu streichen? Wir stellen ihn in den Backofen und suchen danach alles für den Zuckerguss und deine heißgeliebten Zuckerperlen raus. Welche Farbe willst du?«

»Blau«, rief ich begeistert, weil Papa so dunkle blaue Augen hatte. Wie die tiefe See, sagte Mama immer, was ich nicht verstand, denn ich hatte noch nie einen See in echt gesehen. Nur große Häuser und viele Bäume. »Mama?«

»Ja, mein Schatz?«

»Was ist die tiefe See?«

Mama sah mich irritiert an. »Wie kommst du darauf, Mia?«

Ich grinste zu ihr hoch. »Du sagst immer, dass Papa Augen hat, wie die tiefe See. Ganz blau.«

Jetzt lachte sie. »Ah, ich verstehe. Wie gut, dass du schon morgen Geburtstag hast und dein Papa und ich am Wochenende mit dir eine kleine Reise machen. Damit du die tiefe See kennenlernen kannst. Wir fahren nämlich ans Meer und schlafen im Zelt, mein Liebling.«

Ihr Lachen wurde lauter, als ich sie mit offenem Mund anstarrte, denn das wünschte ich mir schon so lange. Seit ich im Fernsehen so tolle Bilder von Stränden, Wellen und großem Wasser gesehen hatte, wollte ich sehen, hören – Papa sagte, dass Meer wäre ganz laut – und riechen, wie das Meer war. Grandma hatte mir erzählt, man könne im Meer das Salz und die Fische riechen. Und ob es wirklich so blau war, wie Papas Augen. Oder wie in den Büchern mit den Geschichten, die mir Mama, Papa und Grandma vor dem Schlafengehen vorlasen. Dort gab es auch viele Bilder vom Ozean und von riesigen Tieren, mit denen Hexen sprechen konnten. Nicht wir, weil unsere Familie mit Bäumen und Blumen sprach, aber es gab andere Hexen, auch wenn ich keine kannte, weil wir hier in der Stadt leider die einzigen waren, hatte Papa gesagt.

»Im Zelt?«, wiederholte ich und jubelte, als Mama nickte. »Ohhh, dürfen wir ein Lagerfeuer machen und Marshmallows rösten, so wie mit Papa im Garten?«

Mama wuschelte mir durch meine langen braunen Haare, nickte lachend und nahm mich dann auf die Arme, damit ich ihr beim Teig halfen konnte, und sobald der Kuchen im warmen Ofen stand, zog sie mich zu der Schublade mit den Zuckerperlen, den Schokolinsen und den Kakaobohnen, die Grandma mir manchmal heimlich zusteckte, wenn wir abends vor dem Schlafengehen noch etwas naschen wollten, ohne dass Mama und Papa davon erfuhren.

»Kommt Grandma auch mit?«, fragte ich und sah zu Mama, weil sie seufzte und den Kopf schüttelte, als sie meinen Blick sah. »Wieso nicht? Grandma liebt Marshmallows.«

»Sie besucht Grandpa, Mia, und du weißt ja, dann ist sie immer ganz traurig und möchte ein bisschen allein sein.«

Das stimmte, wusste ich und nickte, bevor ich mit Mama anfing, die Schublade zu durchsuchen. Grandpa war schon lange fort, was ich schade fand, weil ich gerne einen Grandpa gehabt hätte und auf den vielen Fotos, die an der Wand hingen, sah er lustig aus. Mit Grandpa hätte ich bestimmt tolle Abenteuer erleben können. Aber war schlimm krank gewesen. So schlimm, dass er eines abends eingeschlafen, aber am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht war.

Ich war erst danach auf die Welt gekommen und Grandma sagte immer, ich wäre ihr größtes Glück in einer traurigen Zeit gewesen.

»Mama?«, fragte ich und griff nach den rosa Zuckerherzen, bevor ich zu meiner Mama sah. »Was ist Krebs?«

Mama lächelte traurig. »Krebs ist eine schlimme Krankheit, Mia. Dein Großvater ist daran gestorben, weißt du noch?«

Ich nickte. »Ja, aber … Was ist Krebs? Was macht er?«

»Hm«, machte Mama nachdenklich, dann nickte sie. »Ich werde es dir erklären, mein Liebling. Aber lass mich vorher mit deinem Papa und deiner Grandma reden. Es macht uns immer traurig, darüber zu sprechen, aber du bist klug und du sollst es wissen. Einverstanden?«

Ich nickte wieder. »Einverstanden. Ich hab dich lieb, Mama.«

»Ich liebe dich auch, mein Schatz.«

***

Obwohl Grandma im Bett hätte bleiben können, tauchte sie am nächsten Tag pünktlich mit den ersten fertigen Pancakes in der Küche auf und lachte, als ich sie tadelnd ansah, um danach hinter mir den Wasserkocher zu füllen, weil wir morgens lieber einen Tee statt Kaffee tranken.

»Was? Du kennst mich doch.«

Ja, das tat ich, und musste deshalb auch grinsen. Sie würde wohl immer mit dem ersten Hahnenschrei aus dem Bett fallen, wie sie immer amüsiert zu sagen pflegte, was üblicherweise ein Vorteil für mich war, weil sie dann Frühstück machte. Grandma kümmerte sich ohnehin weit mehr um den Haushalt als ich. Sie hatte mir alles beigebracht, was ich ihrer Meinung nach wissen sollte, aber sie hatte als Rentnerin eben auch mehr Zeit. Und, was für sie der wichtigste Grund war, sie liebte es zu kochen und zu backen, und das Haus in herrliche Düfte zu hüllen.

Und wenn sich dann noch jemand – Devin oder ich – mit Genuss über ihre gezauberten Köstlichkeiten hermachte, war Grandma glücklich und zufrieden.

»Wo du gleich in die Stadt willst, kannst du mir nachher auf dem Heimweg ein paar Kleinigkeiten mitbringen? Dann reicht es, wenn ich heute zum Obst- und Gemüsehändler an der Ecke gehe. Wir haben noch genug Haltbares in der Kammer, nur der Tee und das Toilettenpapier gehen zur Neige. Und die Eier.«

Ich nickte. »Sicher. Schreib mir eine Liste, was wir brauchen, ich besorge alles.«

»Ich lege dir Geld dazu.«

»Grandma«, grollte ich, was sie wieder einmal lachen ließ. Aber mittlerweile war ich zu clever, um mich deswegen mit ihr zu streiten, sonst fand ich das Geld irgendwann in einem Schuh oder meiner Jackentasche. Mir fiel etwas ein. »Sag mal, hast du die Tage Zeit, um einen Kuchen zu backen? Nichts Besonderes, ein Obstboden oder ein schlichter Pulverkuchen, was dir lieber ist. Ich habe bis Ende nächster Woche so viele Aufträge, dass ich kaum dazu kommen werde.«

»Sicher«, erklärte Grandma sich sofort einverstanden und holte Teebeutel aus dem Schrank. »Was ist der Anlass? Kirsche oder Erdbeere?«

»Ich schulde einer gewissen Nervensäge seit gestern Kaffee und Kuchen«, gab ich zu und schürzte die Lippen, als Grandma ein überraschtes Geräusch machte. »Ach ja, Erdbeere bitte.«

»Wie kam es denn dazu?«, fragte sie und ich hörte sie mit den Teebeuteln rascheln. »Üblicherweise willst du ihn jedes Mal umbringen, sobald er dir über den Weg läuft, und jetzt lädst du ihn zum Kaffee zu uns ein?«

»Ich habe ihn nicht eingeladen«, widersprach ich mürrisch und rieb mir mit einem Seufzen die Nasenwurzel, während ich mit der anderen Hand den nächsten Schwung Pancakes in der Pfanne wendete. »Er hat versprochen, die Eiche vorerst nicht zu fällen und wollte dafür natürlich einen Preis. Also sind wir ihm jetzt etwas schuldig.«

Grandma trat zu mir und fing an zu grinsen. »Wir?«

»Du kannst besser backen als ich«, antwortete ich und warf lieber einen Blick in die Pfanne, weil ihr Grinsen breiter wurde. »Deckst du bitte den Tisch?«

»Natürlich, mein Schatz. Es stimmt übrigens nicht, dass ich besser backen kann. Ich mache es nur viel öfter, weil dir die Zeit dazu fehlt.« Sie holte zwei Teller, Tassen und Besteck aus den jeweiligen Fächern und verteilte alles auf der gemütlichen Sitz- und Esstheke, die wir nach unserem Einzug an der Kücheninsel eingerichtet hatten, weil es sich für zwei Leute nicht lohnte, ein Esszimmer zu haben. Dasselbe galt für einen Esstisch, denn wir hatten im Wohnzimmer lieber freien Durchgang haben wollen. Wobei das Wörtchen 'frei' mitunter ein dehnbarer Begriff war, denn mittlerweile standen in dem Bereich zwischen den beiden Terrassentüren viele Pflanzen, die prächtig wuchsen.

Nebenan wurde ein Wagen gestartet, was mich die Augen verdrehen ließ. »Dieser Mann ist wirklich eine Nervensäge.«

»Das sagtest du schon … Sogar sehr oft.«

Da hatte Grandma recht und wusste das auch, so frech, wie sie mich angrinste, während sie den Tee aufgoss, Sirup, Zucker und frisches Obst holte, und als wir dann an der Theke saßen, deutete sie mit der Gabel auf mich.

»Ich weiß, du willst das nicht hören, aber ist dir eigentlich bewusst, dass du und Julian Anderson euch genauso kindisch benehmt, wie deine Eltern, bevor sie geheiratet haben?«

»Eher heirate ich einen Baum als diesen Deppen«, murmelte ich, allerdings ziemlich halbherzig, denn auch wenn ich Julian mit Begeisterung ärgerte, dass er gestern zugesagt hatte, vorerst auf die Fällung der Eiche zu verzichten – vielleicht war er ja im Herzen ein richtig netter Mann. Immerhin hatte er ja auch eine Katze, Pardon, einen Kater gerettet. »Er hat die Katze übrigens immer noch, die eigentlich ein Kater ist und Gardner heißt.«

Grandma sah mich neugierig an und so erzählte ich ihr von dem kurzen Besuch des hübschen Katers bei uns, was sie lachen ließ, bevor sie nickte. »Ein Tierliebhaber, also. Das sind Männer, die man heiraten kann, hör auf meine Worte.«

»Nicht im Traum«, wehrte ich prompt ab.

Sie lachte erneut. »Und? Was habt ihr sonst noch geklärt, als ich unterwegs war? Ich habe gesehen, dass das Bienenhäuschen endlich hängt, wobei mir einfällt, dass Devin wieder an Ideen für neue Häuschen arbeitet. Geschütztere, da bei ihm wohl gern mal Vögel die Brut klauen. Er versieht seine älteren gerade mit Volierendraht, der ist kleinmaschig genug, dass die Insekten an ihre Nester kommen, Vögel aber nicht.«

»Das sollten wir vielleicht auch machen«, überlegte ich und nahm mir zwei Pancakes. »Ich habe zwar noch keine Vögel bei unseren Häuschen gesehen, aber was heißt das schon?«

Grandma nickte. »Ich habe ihn schon gebeten, für uns auch Draht zu besorgen, er kennt sich da besser aus. Er hilft mir, die Bienenhäuschen abzusichern, sobald er alles da hat.« Sie warf mir einen unschuldigen Blick zu. »Natürlich könntest du auch unseren tierliebenden Nachbarn um Hilfe bitten.«

Das fehlte mir noch. Außerdem … Ich räusperte mich. »Der hält mich seit letzter Nacht wahrscheinlich für verrückt.«

»Was?« Wie erwartet, sah Grandma mich verdutzt an. »Wie kommst du denn darauf?«

Tja, jetzt galt es wohl, Farbe zu bekennen, und ich brachte es lieber schnell hinter mich, denn Mister Willis erwartete mich in knapp anderthalb Stunden und das war gerade genug Zeit, um zu essen und in die Stadt zu kommen.

Ich schürzte die Lippen. »Es könnte sein, dass ich gestern in seinem Garten war, um mit der sturen Eiche zu reden, nachdem du ins Bett gegangen warst.«

»Und?«, fragte Grandma ahnungsvoll.

»Ich wurde möglicherweise von Julian dabei erwischt.«

»Mia!«

Bei ihrem entrüsteten Tonfall zog ich eine Grimasse, weil ich mich sofort in meine Kindheit zurückversetzt fühlte, wo meine Unvorsichtigkeit oft Thema bei uns zu Hause gewesen war, vor allem, wenn es darum ging, dass man nicht in Gegenwart von Menschen mit Bäumen sprach. Oder mit anderen Pflanzen, was ich als kleines Mädchen ein paar Mal zu oft getan hatte und am Ende als 'sonderbar' und 'seltsam' verschrien war. Als Ergebnis davon hatte ich eine ziemliche einsame Grundschulzeit gehabt, auch wegen unserer ständigen Umzüge, die mich in den ersten Jahren gezwungen hatten, mich immer wieder auf neue Klassen und fremde Kinder einzustellen.

Zu jener Zeit waren die Bäume und Pflanzen meine besten Freunde gewesen, und nach dem Tod meiner Eltern hatten sie mir geholfen, mit ihrem Verlust zurechtzukommen. Es war ein bisschen besser geworden, als ich in die Highschool kam, aber ich war nie eines von diesen überall so beliebten Mädchen, die einen riesigen Freundeskreis um sich gescharrt hatten, und ich glaubte auch bis heute nicht daran, dass ich in dieser Hinsicht irgendetwas Lebenswichtiges verpasst hatte.

Eines hatte mich die Schulzeit jedoch gelehrt, meinen Mund zu halten und ruhig zu bleiben, wenn man mich wieder einmal damit aufzog, eine Waise zu sein, die Blumen lieber mochte als das neueste Videospiel.

Ich wünschte, ich hätte mir etwas von dieser Ruhe bewahrt, statt mich mit Begeisterung mit Julian zu zanken. »Keine Sorge, ich war wie immer sehr höflich zu ihm.«

Grandma seufzte resigniert, um im nächsten Moment schon wieder zu grinsen. »Ich wette meine beste Bluse, nächste Woche flattert uns eine Klage wegen Beleidigung ins Haus.«

»Grandma!«

»Papperlapapp. Was noch?«, wollte sie wissen, weil sie mich einfach viel zu gut kannte, da half mir auch mein unschuldiger Blick nicht weiter, den sie mit einem »Vergiss es, Mia. Raus mit der Sprache.« kurzerhand zur Seite wischte.

»Der verfluchte Baum hat mich geärgert und zum Stolpern gebracht, und als ich ihn dafür angepflaumt habe, dachte Julian natürlich, ich meine ihn und empörte sich, dass er nichts getan hätte, worauf ich ihm wütend erklärte, dass ich mit dem Baum gesprochen hätte.«

Grandma barg ihr Gesicht in den Händen. »Mia ...«, stöhnte sie hinter ihren Fingern lang gezogen.

»Tut mir leid, Grandma. Es ist mir rausgerutscht. Du weißt doch, dass der Kerl mich ständig auf die Palme bringt.«
Sie spreizte zwei ihrer Finger so weit, dass sie mich durch  ein Auge angucken konnte. »Julian ist ein wirklich netter Mann, was du längst wüsstest, würdest du dich mal länger als ein paar Minuten mit ihm unterhalten, ohne ihn dabei mit dem Tode zu bedrohen.«

Ich schnaubte entrüstet. »Das hat er dir erzählt? Ich bringe ihn um. Und den Kuchen kann er ja wohl vergessen. Seit wann redest du eigentlich mit ihm?«, fragte ich mürrisch, denn davon hörte ich zum ersten Mal. War ich tatsächlich so verbohrt, was Julian anging, wie es mir gerade vorkam?

Grandma ließ die Hände sinken und lehnte sich lachend auf ihrem Stuhl zurück. »Den Kuchen backe ich und er wird weder in unserem noch seinem Haus umgebracht. Und er wird auch nicht im Garten unter der sturen Eiche vergraben, verstanden? Ich rede übrigens schon seit Monaten mit ihm, wann immer wir uns vor dem Haus treffen oder im Garten sehen, weil er, wie ich es dir bereits sagte, ein sehr netter Mann ist … Den übertrieben entrüsteten Blick kannst du dir bei mir sparen, das weißt du«, erklärte sie trocken und wandte sich ihren Pancakes zu. »Aber wo wir gerade davon reden … Hat es dieses Mal was gebracht? Mit der Eiche zu reden, meine ich?«

Ich seufzte schwer. »Nein. Er will nicht mehr leben.«

Ihrem folgenden, nachdenklichen Nicken nach zu urteilen, war Grandma nicht überrascht. »So ungern ich das ausspreche, aber vielleicht sollten wir es gut sein lassen. Du weißt, sie haben ihren eigenen Willen, und sie haben auch das Recht zu sterben, wenn sie das wollen.«

»Und die Feen?«, fragte ich, was im Grunde kein Argument war, weil sie kein Anrecht auf die Eiche hatten. Manchmal war ein Umzug eben unumgänglich.

»Werden ein neues Zuhause finden. Das tun sie immer. Der Kirschbaum hinten dürfte groß genug sein. Ich spreche mit ihm und den Feen. Mal sehen, was sie dazu sagen. Der Kirschbaum ist noch jung, aber er ist ziemlich neugierig und beäugt die Feen schon länger aus der Ferne. Ich wette, er wäre begeistert, sie als Bewohner zu haben. Was die Feen angeht … tja, das wird sich erst zeigen müssen.«

Feen waren manchmal eigen, vor allem die Älteren. Doch da ihr Zuhause wohl auf lange Sicht verloren war, hatten sie keine andere Wahl, als sich ein neues zu suchen. Und wenn sie etwas gegen unseren Kirschbaum einzuwenden hatten, mussten sie sich eben selbst nach einem neuen Zuhause umsehen.

Aber vielleicht kam es nicht dazu. Ich war noch nicht bereit, aufzugeben. Mochte die Eiche stur sein, ich war es auch, und es war das Mindeste, dass ich es wenigstens noch einmal bei ihm versuchte. Vielleicht konnte ich ihn ja doch noch umstimmen, in dieser Welt zu bleiben.

»Ich werde es ein letztes Mal versuchen«, entschied ich und wiegte überlegend den Kopf, als Grandma mich nur ansah. »Ja, ich weiß, dass die Chance klein ist, aber es ist unser Job, auf sie aufzupassen. Jedenfalls so gut wir es können. Ich will ihn nicht einfach aufgeben.«

»Und wenn er seine Entscheidung nicht ändert?«

»Dann lasse ich ihn gehen«, antwortete ich und seufzte im Anschluss daran. »Auch wenn es mich innerlich für eine Weile umbringen wird.«

»Du bist deiner Mom so ähnlich, mein Liebling. Bewahre dir das, hörst du? Kämpfe um jeden alten Baum und jeden noch so kleinen Grashalm. Die Erde braucht Hexen wie dich, Mia.«

Ich grinste unwillkürlich. »Die Erde braucht auch Nachbarn samt Warze auf Nase oder Arsch«, erklärte ich und Grandma fing an zu lachen, während sie mir gleichzeitig mit dem Finger drohte. »Was?«

»So sehr ich den Anblick zu schätzen wüsste, du weißt, dass Hexereien gegenüber Menschen nur im äußerst Notfall erlaubt sind, und ich glaube nicht, dass ein nerviger Nachbar zu einem Notfall zählt.« Sie sah mich amüsiert an. »Aber du kannst ja den Big Boss um Erlaubnis fragen, auf seine Antwort wäre ich sehr gespannt.«

»Haha, sehr komisch«, nörgelte ich, obwohl ich die Antwort auch sehr spannend finden würde. Aber ich war nicht verrückt genug, einen entsprechenden Brief an das Institut für mystische Angelegenheiten zu schreiben – wahlweise eine E-Mail – um zu fragen, ob sie wohl bezüglich meines Nachbarn eine Ausnahme von der Regel machen würden.

Das Institut gab es übrigens wirklich, obwohl die Menschen im Normalfall nur darüber lachten, was ich verstehen konnte. Trotzdem hatte es einen regen Zulauf, denn man konnte dort rund um die Uhr mögliche Sichtungen von mystischen Wesen oder andere seltsame Vorfälle melden. Was für das Institut eine perfekte Möglichkeit war, um zu verhindern, dass Hexen und Zauberer mit Regelbrüchen davon kamen. Das Institut war für uns das, was für die Menschen die Polizei war, und sie gingen jeder glaubwürdigen Meldung nach.

Egal ob es Bäume waren, die sich selbst verpflanzten, was in Tokio zum Abrutschen eines Berghangs führte, wodurch später herauskam, das arme Dorfbewohner dort illegal nach seltenen Metallen suchten und sie ohne Rücksicht auf die Natur und ihr eigenes Leben abbauten, um die Metalle an den Meistbietenden zu verkaufen. Oder eine Gruppe Feen, die in Schottland fast für einen Aufstand gesorgt hatten, als sie auf einmal anfingen, sich nicht nur Kindern – das war ganz offiziell erlaubt, denn bis zu einem gewissen Alter hatten Kinder eine rege Fantasie, die wir zu gerne unterstützten und wachhielten, denn aus einigen von diesen Kindern wurden später große Künstler verschiedenster Ausrichtungen –, sondern auch Erwachsenen zu zeigen.

Wobei solche Ereignisse in den letzten Jahren nachgelassen hatten. Sogar sehr deutlich, fiel ihm mir auf, während ich nach einem weiteren Pancake griff und dabei nachdachte. Wann war zuletzt etwas Großes passiert, bei dem in den Nachrichten von »seltsamen Begleiterscheinungen« die Rede gewesen war? Mir fiel auf die Schnelle nichts ein und die üblichen Katastrophen in den letzten Monaten und Jahren waren nicht uns fantastischen Wesen, sondern den leider immer schneller voranschreitenden Klimaveränderungen zuzuschreiben.

Wann hatte ich zuletzt von einem Ereignis gehört, welches ich explizit einer Hexe, einem Zauberer, Feen oder auch einem Baum hätte zuordnen können?

Als mein Teller leer war, war mir immer noch kein Ereignis eingefallen, was erschreckend und überraschend zugleich war. Wann waren Grandma und ich eigentlich solche Eigenbrötler in dieser Welt geworden? Und wenn es uns betraf, dann vielleicht auch viele andere Familien von Hexen und Zauberern? Falls es überhaupt noch »viele« gab. Ich hatte schon als Kind keinerlei Kontakt mit anderen Hexen gehabt. Im Grunde kannte ich nur meine Familie, niemanden sonst.

»Wie viele von uns gibt es eigentlich noch?«, fragte ich und als Grandma nachdenklich die Lippen schürzte, wurde mir für einen Augenblick Angst und Bange. »Du weißt es nicht, oder?«

»Nein«, gab sie zu. »Ich habe, das ist allerdings schon Jahre her, mehrere diesbezügliche Anfragen an das Institut gestellt, aber auf keine eine ehrliche Antwort bekommen. Es hieß immer nur, dass diese Daten nicht für uns bestimmt seien und wir bitte weiterhin unserer Aufgabe nachgehen sollen, wie sie uns vor so vielen Generationen zugeteilt wurde.«

Ich runzelte die Stirn. »Klingt nach Politik.«

»Es heißt vor allem, wir kleinen Hexen sollen uns aus dem Tagesgeschäft von »denen da oben« gefälligst raushalten, sonst gibt es wahrscheinlich Ärger, und mir war es das Ganze damals nicht wert, um weiter nachzuforschen. Wir sind zu dieser Zeit noch in der Gegend herumgezogen und mir war es wichtiger, dass es uns gutgeht, als mich um Politik und anderen Kram zu kümmern, den ich eh nicht ändern kann.«

Das konnte ich gut verstehen. Grandma hatte sich immer sehr um mich gesorgt, gerade nach dem Tod meiner Eltern, und trotz ihrer eigenen Trauer um meine Mutter, ihre Tochter, war sie immer für mich da gewesen. Ich hätte es an ihrer Stelle nicht anders getan.

»Und was denkst du heute darüber?«, fragte ich.

Grandma wiegte überlegend den Kopf. »Ich denke, dass es schlimm ist. Es gab schon damals, lange vor deiner Geburt, die ersten Gerüchte, dass immer weniger Kinder geboren würden. Deine Mutter war ein Einzelkind, dein Vater ebenfalls, wie du ja weißt, und nach deiner Geburt stand schon bald fest, dass deine Mutter kein zweites Kind austragen konnte. Es wäre zu riskant, sagten die Ärzte und das haben wir natürlich akzeptiert, denn wir hatten ja dich. Du warst unser wunderschöner, kluger und immer fröhlicher Sonnenschein.« Grandma lächelte mich an, aß auf und schob ihren Teller von sich. »Ich habe keine Beweise, aber ich glaube, je kränker die Welt wird, umso mehr überträgt sich das auch auf uns, weil wir nah mit der Natur und all ihren Wundern verbunden sind. Und denk an die Menschen. Selbst sie reden bereits seit Jahren über sinkende Geburtsraten. Diese Welt stirbt, Mia, und wir mit ihr, denn ich glaube, dass auch die Zahl der Menschen, die durch die Liebe zu uns kommen, stetig sinkt, und zwar seit vielen Jahren.«

Ich brauchte keine Beweise, um zu glauben, was sie sagte, es war logisch für mich. Wir starben aus, so wie die Menschen und wie der ganze Planet. Es würde nicht schnell gehen, vermutlich  noch Generationen dauern, sofern nicht einer von diesen Irren den Knopf drückte und einen dritten Weltkrieg anfing, aber die Welt war dem Untergang geweiht und wenn wir dagegen noch etwas tun wollten – sofern wir das überhaupt konnten – musste es bald passieren.

»Du hast nie gefragt, ob ich Kinder will«, fiel mir ein, denn irgendwie war das nie ein Thema gewesen. Weder für Grandma noch für mich.

»Weil ich die Welt da draußen sehe. Es mag zwar nicht den Anschein erwecken, denn ich bin zufrieden mit meinem kleinen Leben hier, aber ich sehe die Probleme, und die Vorstellung, ein kleines Wunder, wie du es einst warst, in diese Welt zu setzen, macht mich innerlich krank. Kinder gehören in eine intakte und gesunde Welt, nicht auf diesen sterbenden Planeten.«

»So grausam das klingt, ich kann dich verstehen«, murmelte ich, denn ich dachte genauso. Ich war Mitte Dreißig, der Zug in puncto Kinder ohnehin fast abgefahren, und ich war darüber nicht unglücklich. Im Gegenteil. Dabei hatte ich grundsätzlich nichts gegen Kinder, aber ich hatte auch nie meine biologische Uhr ticken hören und ich hatte auch nie das Bedürfnis gehabt, mir einen Ehemann zu suchen. Für Kinder brauchte man einen Vater, doch in meinem Leben hatte es bislang nicht einen Mann gegeben, mit dem ich mir überhaupt hätte vorstellen können, Kinder zu haben oder ihn zu heiraten.

»Ich glaube, die Oberen, halten das schon lange geheim, weil sie wissen, wo die Reise hingeht«, sagte Grandma und sah mich ernst an. »Und ich kann verstehen, warum sie das tun. Wieso sie es nicht öffentlich machen wollen. Ich meine, was sollen sie auch sagen? Dass die Menschen es geschafft haben? Dass sie die Welt, trotz unserer Bemühungen, so weit ruiniert und zerstört haben, dass wir bald nicht mehr auf ihr existieren können?«

»Ja«, warf ich ein und sah Grandma ungläubig an. »Wie soll sich denn etwas ändern, wenn niemand Bescheid weiß?«

»Mia, du bist so klug, aber jetzt denkst du nur mit deinem Herzen. Würden die Oberen das öffentlich machen, was glaubst du, würden die verbliebenen Zauberer und Hexen tun?« Als ich die Stirn runzelte, seufzte Grandma. »Die Welt hat schon genug Kriege und Katastrophen, deren sie nicht Herr wird. Käme ans Licht, was viele von uns ohnehin längst wissen dürften, aber, so wie ich, entschieden haben, darüber zu schweigen, stünden wir vor einem weiteren Krieg, den die Erde nicht überleben dürfte, denn die Menschen würden alle Waffen einsetzen, die es gibt, um uns und die Natur aufzuhalten. Sie können nicht anders, denn sie sind die einzige Spezies dieser Welt, die die Waffen, die sie eines Tages vernichten werden, selbst gebaut haben.« Grandma schüttelte den Kopf, als ich etwas sagen wollte. »Ich habe nicht aufgegeben, denk das nicht, Mia. Ich habe Hoffnung, denn ich sehe die kleinen Veränderungen zum Guten, genauso wie du. Denk an die Menschen, für die du arbeitest. An all jene, die immer lauter und eindringlicher mehr Schutz für Natur und Meere fordern. Es ist noch nicht alles verloren. Wir stehen hart an der Grenze, aber noch gibt es Hoffnung.«

***

Hoffnung.

Ein so bedeutendes und mächtiges Wort, dass ich noch am späten Abend darüber nachdachte, als ich wieder einmal durch unseren dunklen Garten schlich, um vorsichtig einen Zaun zu überwinden und kurz darauf mit bösem Blick vor meiner Eiche hielt, die das mit einem tiefen Seufzen kommentierte, bevor sie einen ihrer schlanken Äste neigte, um mir mit selbigem zärtlich über die Wange zu streicheln. Ich ließ es lächelnd zu, trat näher und legte meine Hand auf den Stamm.

Kind, du bist so lästig wie der kleine Maulwurf, der sich seit ein paar Tagen zwischen meinen Wurzeln hindurch gräbt.

Ich musste prompt grinsen, was mir einen tadelnden Klaps mit dem Ast einbrachte, den ich daraufhin zur Seite schob. Ein Maulwurf? Warum verscheuchst du ihn nicht?

Es macht Spaß, ihn zu ärgern, in dem ich seine gegrabenen Wege immer wieder mit meinen Wurzeln versperre.

Diese dickköpfige Eiche hatte eine seltsame Definition von Spaß, aber was wusste ich denn schon? Das ist gemein.

Ich bin alt und grausam … und manchmal bin ich sogar gehässig. Aber zumindest schmiede ich keine Mordpläne.

Ausgerechnet das musste er kommentieren? Wer hatte mich denn gestern Nacht mit Absicht fast zu Fall gebracht und sich dann auch noch köstlich darüber amüsiert? Eichen. Pah.

Sagt der, der mir eine Wurzel in den Weg geschoben hat. Er hätte es bemerken können.

Der folgende Laut, begleitet von einem Knarzen seiner Äste und einem Rascheln seiner noch kleinen Blätter, war verächtlich und zugleich so von oben herab, dass ich die Augen verdrehte, obwohl ich ihm insgeheim zustimmte, denn ich wusste genau, warum er so reagiert hatte. Menschen bekamen kaum noch mit, was in der Natur um sie herum vor sich ging, das hatte ich in meiner Arbeit als Gärtnerin und auch vorher am College und in der Schule so oft erlebt, und je älter ich wurde, je elektronischer die Welt und je technikverliebter die Menschen, umso weniger bekamen sie von dem Ort mit, der sie am Leben erhielt.

»Er ist nicht wie sie«, murmelte ich gedankenverloren, denn Julian war anders. Aufmerksamer. Aber vielleicht war das auch bloß reines Wunschdenken meinerseits.

Er ist nur ein dummer Mensch. Die meisten von ihnen bemerken nichts, was nicht direkt vor ihrer Nase passiert, und selbst dann ist es nicht sicher, weil sie ständig damit beschäftigt sind, auf ihre Handys oder Tablets zu starren.

Du kennst die Begriffe dafür?, fragte ich verblüfft, denn damit hatte ich nicht gerechnet.

Ich höre zu, Kind. Schon immer.

Das tun nicht alle Bäume.

Weil sie es nicht müssen oder nicht wollen. Wir sind lebende und denkende Wesen. Wir entscheiden selbst, welche Interessen wir in der Zeit unseres Daseins verfolgen.

Dem konnte ich nicht widersprechen. Und genau deswegen war ich mir sicher, dass seine Einschätzung in Bezug auf Julian falsch war. Julian ist nicht dumm. Im Gegenteil. Sei bitte vorsichtig, bat ich, denn alles andere könnte gefährlich für uns werden.

Nach den Worten schwieg die Eiche eine ganze Weile, doch als ich schließlich zurücktrat, um ihn für die Nacht in Ruhe zu lassen, umfing er mich mit einem schlanken Ast und hielt mich an seiner Seite. Du hältst ihn für klug genug, uns zu bemerken?

Ich nickte. Ja.

Du bist jung, Kind.

Himmel, war er arrogant. Warum war mir das nicht früher aufgefallen? Aber nicht blöde. Genauso wenig wie Julian. Sein Blick ist wach und klar. Wenn du nicht aufpasst, wird er etwas merken und dich schneller fällen, als dir vielleicht lieb ist.

Dann hätte er es längst getan.

Es war ihm wirklich egal, erkannte ich und das machte mich traurig. Du willst wirklich sterben, nicht wahr?, fragte ich, weil das so weit von allem weg war, das ich kannte.

Ich würde niemals freiwillig vor meiner Zeit aus dem Leben scheiden. Ja, okay, wäre ich todkrank oder nach einem Unfall plötzlich ein Schwerstpflegefall – in so einem Fall könnte man über Sterbehilfe nachdenken, aber einfach so? Nur weil ich auf einmal keine Lust mehr auf diese Welt hatte? So etwas kannte ich von depressiven Menschen, aber ich hatte noch nie gehört, dass Bäume an Depressionen litten.

Ja, Kind. Es ist mein Wille.

Aber warum?, fragte ich zum wiederholten Male. Ja, die Welt ist schlecht und sie wird von Tag zu Tag schlimmer, aber du hast nur dieses eine Leben. Ich hörte ihn in meinem Kopf lachen. »Was?«, flüsterte ich, weil ich einfach nicht verstand, wie er über seinen selbst gewählten Freitod lachen konnte.

Das ist ein Trugschluss, Kind. Ihr unschuldigen und dabei immer so naiven Naturgeister, aber auch die Menschen, ihr seid die einzigen Wesen auf dieser Welt, die nur über ein Leben verfügen. Wir kehren immer zurück. Durch Samen, vergessene Wurzeln oder Ableger. Wo ihr nach dem Tod ins Nichts verschwindet, bleibt von uns alles für die nächsten Generationen erhalten. Wir sind eins, mein Kind. Wir sind ein riesiger Organismus, der die ganze Welt durchdringt. Hast du das denn immer noch nicht begriffen?

Grundsätzlich wusste ich das, aber scheinbar hatte ich die Bedeutung dieses Wissens unterschätzt. Aber wird dein Unwille zu leben, nicht auf jene übergehen, die dir nachfolgen?

Nein, Kind. Mein Leben beginnt von Neuem. Sieh … Dort.

Es dauerte ein bisschen, bis ich dicht vor dem Zaun zu dem Grundstück, das Julians Garten von dem der Nachbarn auf der anderen Seite trennte, einen kleinen Baum entdeckte. Er war so jung, dass er aus kaum mehr als einem dünnen Stamm und drei Blättern bestand, aber ich konnte ihn bereits flüstern hören, als ich mich mit allen Sinnen auf ihn konzentrierte.

»Ein Baby«, murmelte ich und musste einfach lächeln, weil das da drüben ein gesundes, neues Leben war, von denen wir unfassbar viele brauchten, um der Welt eine neue Richtung zu geben, und jedes einzelne war daher umso kostbarer. Vor allem, wenn es aus dieser sturen Eiche bestand. Ich klopfte leicht an seine Rinde, was die Blätter über mir leise rauschen ließ. »Wird er eines Tages genauso stur werden wie du?«

Verlass dich darauf, Kind.

Ich verstand, was er mir damit sagen wollte, und auch wenn es mir unglaublich wehtat, ich würde aufhören zu kämpfen, um ihn gehenzulassen. Grandma hatte recht, es war nun mal allein seine Entscheidung, ob sie mir nun gefiel oder nicht.

Du wirst mir fehlen, du dickköpfiger Mistkerl.

Ach, Kind, du wirst noch in zwanzig Jahren an mich denken und mich verfluchen. Besonders wenn er größer wird und du als alte Frau mit grauem Haar über seine Wurzeln stolperst.

Jetzt bloß nicht lachen. Werd ja nicht frech, alter Mann.

Er lachte in meinem Kopf, laut und klar, während sich über mir seine sprießenden Blätter im seichten Wind bewegten, und dann war er plötzlich fort. Ein Abschied für immer, das wusste ich. In seiner unmissverständlichen Art und Weise, hatte er mir soeben klar gemacht, dass es vorbei war. Er würde nicht mehr mit mir reden. Weder heute noch morgen noch jemals wieder. Er hatte sich entschieden und alles, was mir jetzt noch blieb, war sein Zögling am Grundstücksende.

»Ich werde Julian sagen, dass er dich fällen soll. Leb wohl, du verdammter Sturkopf«, flüsterte ich und drängte die in mir aufsteigenden Tränen über seinen Verlust zurück, ehe ich mich umdrehte, um ins Haus und ins Bett zu gehen, denn es war spät und ich hatte auch morgen viel zu tun.

Dieses Mal gab es keinerlei Vorwarnung.

Kein Räuspern, keine Taschenlampe, kein dummer Spruch.

Stattdessen stand Julian schweigend auf seiner Terrasse und sah mir zu, wie ich, nachdem ich den ersten Schreck über seine Anwesenheit wieder abgeschüttelt hatte, erneut den Weg über den Zaun nahm und mich dabei stumm und ziemlich besorgt fragte, wie viel er heute Nacht gehört hatte, und vor allem, was er daraus machen würde.